Dienstag, 18. August 2015

Vera Nentwich - Was weisst du über diese Frau?

Zitat aus dem Blog der Autorin Vera Nentwich: 
Ihr Name ist Annika Menzel. Sie ist dreißig Jahre alt, lebt in der Stadt in einem Mehrfamilienhaus im dritten Stock. Sie ist klein und zierlich. Fast wirkt sie zerbrechlich. Man sieht sie am Morgen das Haus verlassen und mit ihrem Kleinwagen davon fahren. Besuch scheint sie nicht so oft zu bekommen. Häufig sieht man sie auf Flohmärkten, wo sie sich für Engelsfiguren aller Art interessiert. Sie muss Unmengen von diesen Figuren besitzen. Ich weiß, dass sie an Engel und an die Macht des Universums glaubt. Sie lebt allein, ist heimlich in den Mann im Stockwerk unter ihr verliebt und hat beim Universum bestellt, dass er sie wahrnehmen möge. Mehr weiß ich nicht. Daher suche ich nach sachdienlichen Hinweisen, die mir diese Frau näher bringen.

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Als ich das las musste ich schmunzeln.

Es ist zwar schon eine Weile her, dass ich in einem Haus mit mehreren Wohneinheiten gelebt habe, aber auf die Lady, die damals unter mir wohnte, hätte der Name Annika Menzel perfekt gepasst.  Sie lebte allein mit einer fuchsrot-getigerten Katze, die – wie auch immer - ständig den Weg von ihrem Balkon zu meiner Dachterrasse fand, und einem Kanarienvogel, dessen „Gesang“ dafür sorgte, dass ich im Sommer immer kurz vor dem Schaufenster eines Waffenladens stehen blieb um die Auslage zu betrachten.
„Meine“ Annika Menzel arbeitete zu jener Zeit in der Kanzlei eines antiquierten Steuerberaters als einzige Angestellte und verließ jeden Morgen - pünktlich auf die Sekunde - um halb acht Uhr das Haus und stieg, gekleidet mit einem akkurat gebügelten Kostüm und einer gestärkten, absolut faltenfreien Bluse, in den Bus. Entgegen der gesuchten Annika Menzel, besaß die meine zwar einen Kleinwagen, nutzte ihn aber nicht. Ihre Nuckelpinne verließ ihren Stellplatz ausschließlich samstags um seine Fahrerin zum Bummel über den Flohmarkt an der Trabrennbahn sowie dem Besuch der Tankstelle mit dem günstigsten Spritpreis der Stadt zu bringen und beendete die Rundfahrt nach dem Einkauf in einem Supermarkt wieder in der gleichen Position, von der sie morgens losgefahren war.

Ihre Freundinnen habe ich nie gesehen, nur gehört. Sie saßen im Sommer so manche Nacht zu dritt auf dem Balkon und hielten mich von meinem wohlverdienten Schönheitsschlaf ab. Ihre Inneneinrichtung existierte nur in meiner Vorstellung. Gesehen habe ich sie nie. Ich glaube, Annika hatte etwas Angst vor mir, da ich schon beim Betreten des Hauses meine „Ich bin unsozial“-Miene aufsetzte um vor den beiden Rentnerinnen im Erdgeschoss meine Ruhe zu haben, die sich regelrecht darum rissen meine Pakete anzunehmen, nur um mir ein Kotelett an die Stirn und zwei Schnitzel an die Wangen zu quatschen.

Das einzig längere Gespräch hatte ich mit jener Annika, als ich auf Socken und in Shorts kurz zum Briefkasten getigert bin um meinen Autoschlüssel herauszuholen, den meine Schwester in der Nacht zuvor eingeworfen hatte. Dummerweise war es etwas windig, meine Terrassentür geöffnet und mein Schlüsselbund lag auf der Kommode in der Diele als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fiel. „Meiner“ Frau Menzel stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als sie ihre Tür gerade mal einen Spalt breit öffnete und sich meine Bitte, einen Schlüsseldienst anrufen zu dürfen, anhörte. Sie versuchte krampfhaft mir ausschließlich ins Gesicht zu blicken, bevor sie sich mit Kaffee und Bademantel in der Hand zu mir auf die Treppenstufen setzte, nachdem sie selbst diesen Anruf tätigte um diesen obszönen Kerl aus der Wohnung über ihr nicht in die Wohnung lassen zu müssen.

Was aus "Frau Menzel" geworden ist, weiß ich nicht. Aber ich finde es schon amüsant, dass ein "erfundener" Name und eine kurze Beschreibung irgendwelche verstaubten Erinnerungen ans Tageslicht bringen. 


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